Samstag, 20. April 2024



NZZ, 9.4.24

Sokrates und der ChatGPT

Schreiben in der postliterarischen Welt


Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, erhob sich ein Lamento über den Niedergang der Kultur infolge der «Technisierung des Wortes». Platon hielt bekanntlich nicht viel vom geschriebenen Wort. Die Schrift spricht nicht zurück. Nur der Dialog bringe uns der Wahrheit näher.  

Was würde Platon über die neue Technologie der Textgeneratoren sagen? An einer Stelle im Dialog «Phaidros» gibt der platonische Sokrates Auskunft. Die Schrift verleihe «den Schülern (..) nur den Schein der Weisheit, nicht die Wahrheit selbst. Sie bekommen (..) vieles zu hören ohne eigentliche Belehrung und meinen nun, vielwissend geworden zu sein, während sie doch meist unwissend sind und zudem schwierig zu behandeln, weil sie sich für weise halten, statt weise zu sein (..) Im Vertrauen auf die Schrift suchen (die Schüler) sich durch fremde Zeichen ausserhalb, und nicht durch eigene Kraft in ihrem Innern zu erinnern». 

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Man ersetze die Schrift durch den ChatGPT, und Sokrates’ Kritik ist à jour. Es geht dabei nicht um die Technik, sondern um das Verhältnis von Technik und Mensch. Technik ist, um hier eine gängige Formel zu gebrauchen, das Delegieren menschlicher Vermögen an Geräte. Wir delegieren das Erinnern an das «Gerät» Schrift, so Platon, deshalb verkümmert dieses Vermögen und führt zur Dekadenz der mündlichen Kultur - letztlich des Denkens. 

Nun bekommen wir vom ChatGPT in der Tat «vieles zu hören, ohne eigentliche Belehrung». Sein Können, sagen wir, liege schlicht darin, aus einer Bitfolge mittels eines Transformer-Algorithmus eine neue Bitfolge zu generieren. Na und? Nenne man dies nun «schreiben» oder auch nicht. Wenn sich der maschinengenerierte Text oft nicht mehr vom menschengenerierten unterscheiden lässt, kann man getrost  auf den Unterschied zwischen der Simulation von Schreiben und Schreiben verzichten. 

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Diese steile These zielt direkt auf das Herzstück unserer Kultur, die Bildung. Und Bildung heisst heute primär: Kompetenzen lernen. Das tun auch Maschinen. Sie lernen, Schreiben zu simulieren. Warum sollte da der Schüler hintanstehen? Wem bescheinigen wir jetzt Autorschaft? Dem Hybrid Schüler-Maschine? Eine postliterarische Welt zeichnet sich ab, in der die Schriftkundigkeit als altehrwürdige Kulturtechnik an Bedeutung zu verlieren scheint. Blüht dem Schüler der «Tod des Autors», um die Situation mit Roland Barthes’ berühmtem Diktum zu dramatisieren? 

Hier meldet sich Platons These, dass der Dialog die höchste Ausdrucksform menschlicher Argumentation sei, überraschend zurück. Wenn man Texte ohne Anstrengung generieren kann, liegt die eigentliche Leistung nicht im Schreiben, sondern im Lesen. Warum dann zum Beispiel nicht den Schüler «seinen» Text selber lesen, interpretieren und Schlussfolgerungen daraus ziehen lassen? Denkbar wäre auch, dass der Schüler mit «seinem» Text nichts Endgültiges, sondern Ausgangsmaterial abliefert, anhand dessen er nun seine Kompetenzen «coram publico» vorzuführen hat, im Diskurs, buchstäblich: im hin und her gehenden Gespräch mit der Lehrperson und den Mitschülern. 

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Die Ironie springt jedenfalls ins Auge: Kultur entwickelt sich von der Oralität über die Literalität zur Digitalität – und wieder zurück zur Oralität. Das ist kein Rückschritt, sondern Dialektik der Technik. Wir haben im Zuge des Fortschritts so viel Können an die Maschinen delegiert, dass sich jetzt die Frage stellt: Was wollen wir Menschen denn eigentlich noch können? 

Als Erstes muss man den gebannten Blick vom ChatGPT lösen und das ausschliesslich technische Verhältnis zum Text hinterfragen, das er definiert. Was lernen wir eigentlich mit dem Schreiben? Nur Texte generieren? Nicht etwa auch, den Blick für all die Nuancen in der Welt schärfen? Zu erfahren, wie Begriffe und Ideen entstehen? Diskursiv das Wahre vom Falschen trennen? Die Perspektive anderer Menschen kennen lernen? Und: Ist beim Schreiben der Weg nicht oft wichtiger als das Ziel? 

Solche Fragen verleihen einem zentralen Begriff Platons Aktualität: Wiedererinnerung. Seiner metaphysischen Bedeutung entkleidet  lässt er sich so interpretieren: Die Maschine «erinnert» den Menschen daran, was er eigentlich kann. Sie hebt die traditionellen Kulturtechniken aus der unreflektierten Selbstverständlichkeit. Platon nennt das «Mäeutik»: Hebammenkunst. Sie wiese heute der Schule eine «geburtshelferische» Aufgabe zu. Diese bestünde nicht zuletzt im Wiederaufwärmen eher verpönter mündlicher Techniken wie etwa Rezitieren oder Diktat. Das hat nichts mit altem Schuldrill zu tun, sondern mit der Schärfung des Unterscheidungsvermögens zwischen dem, was der Schüler selber können, und was er an die Maschine delegieren will. Gerade das Delegieren ist ja die ständige Verführung, «sich für weise (zu) halten, statt weise zu sein». 

Sokrates wendet sich nicht radikal gegen die Schrift. Sie ist dann nützlich, sagt er, wenn sie «in der Seele des Lernenden» weiter geschrieben wird. Eine altmodische Definition echter Bildung. Versteht man sie noch?



Dienstag, 9. April 2024



Das Monster in uns
Der Hang zum Unmenschlichen ist menschlich


Jüngst war in den Medien von den «Hamas-Monstern» die Rede. «Yahia Sinwar – das Monster von Gaza». Solche Dämonisierung – oder genauer «Monsterisierung» -  ist gang und gäbe. Ein Buch über den Massenmörder Anders Breivik trägt den Titel «The Utoya Monster», ein Film über den Inzesttäter Josef Fritzl «Geschichte eines Monsters». Regelmässig bezeichnet man Untaten, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, als «monströs». Den Titel «Monster» reservieren wir – oft auf  heimlichem hohem Erregtheitsniveau - für Menschen, deren Handeln, Beweggründe, deren ganzes psychisches und intellektuelles Universum sich unserem Verständnis entzieht. Deshalb ist der Begriff auch eine Warnung; «monstrare» bedeutet zeigen und warnen. 

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Wovor eigentlich? Sicher vor physischer Bedrohung. Monster wollen Böses, sie wollen uns töten, von uns Besitz ergreifen, uns vergewaltigen, unser Blut saugen. Grund genug, sich vor ihnen zu fürchten. Aber physische Gefahr allein genügt nicht, um sie von anderen Bedrohungen zu unterscheiden. Ein Krokodil kann durchaus eine physische Gefahr darstellen, ist aber kein Monster. Und warum nicht? Weil man es einer eindeutigen Kategorie zuschlagen kann. Das Krokodil ist ein Tier. 

Zum Monstersein braucht es eine andere, nichtphysische Gefahr. Man könnte sie die Gefahr der Uneindeutigkeit nennen. Monster passen in kein Kategoriensystem, sei dies natürlich oder kulturell. Sie sind ein Affront gegen die Natur, die Sitte, das Recht. Wir wissen kognitiv nicht, was wir mit diesem uneindeutigen Ding anfangen sollen. Wenn es keine reelle Gefahr anzeigt, so doch eine virtuelle. Gerade diese Virtualität – das Gerücht, der Verdacht - macht jemanden zum Monster. Als Zwitterkategorie eignet es sich gut zur Dämonisierung des Anderen. Der Andere gehört nicht zu «uns» und gehört doch zu «uns». Eine solche  widersprüchliche und «gefährliche Nähe» macht ihn unheimlich, weil die binäre Logik ihn nicht fasst. Das erinnert natürlich an den altbekannten psychoanalytischen Topos: die Nähe des Unheimlichen zum Heimischen, des Ungeheuren zum Geheuren. Wohl deshalb auch das verbreitete Unbehagen gegenüber den Non-Binären.

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Im Monster kommt die wohl ungeheuerlichste Paradoxie des Menschen zum Vorschein: eine Person unmenschlich traktieren, weil sie menschlich ist. Gewöhnlich nehmen wir Artgenossen spontan als Mitmenschen wahr. Aber immer wieder mischt sich in diese Wahrnehmung die Ideologie des «Untermenschentums» ein, die uns suggeriert, gewisse Mitglieder unserer Spezies seien nicht «eigentlich» menschlich. Wir kennen die Ideologie sattsam aus den Traktaten der Nazis oder der weissen Suprematisten. Jüngst auch aus dem Mund des stellvertretenden Bürgermeisters von Jerusalem, Arieh King. Er erklärte angesichts von fast nackten Palästinensern, die in einer Sandgrube festgesetzt worden waren: Könnte er  entscheiden hätte er die Gefangenen mit Bulldozern lebendig begraben; sie seien keine Menschen oder menschliche Tiere, sondern Untermenschen.  

Wie stark und nachhaltig freilich diese toxische Indoktrination auch wirken mag, sie verdrängt den mitmenschlichen Urblick nie völlig. Oder eher, sie spaltet ihn auf in zwei Teilblicke, die sich unter Umständen nicht mehr vertragen. Diese seltsame «gespaltene» Denkart ist in uns allen angelegt. Und sie wird in dem Moment zur Monstrosität, in dem die Ideologie unsere Wahrnehmung derart in Beschlag nimmt, dass wir andere Menschen gegen die Evidenz unserer Sinne und gegen die innere Stimme unserer Empathie nicht mehr als «unseresgleichen» qualifizieren. Dann geschieht etwas, das im Tierreich eine Ausnahme ist: die Gewalthemmung gegenüber Angehörigen der eigenen Spezies verschwindet total. Die Hamas-Terroristen sahen in ihren Opfern zweifellos Menschen, und gerade weil diese Opfer Menschen waren, wurden sie unmenschlich behandelt. 

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Wir sind offenbar anfällig für diese eigentümliche «normale» Geistesgestörtheit. Es bedarf dazu gar nicht erst der Ideologie. Auch tradierte Vorurteile, Ängste, tiefverwurzelter ethnischer Hass können den Widerspruch am Köcheln halten. 1993 wütete der Mob im rumänischen Dorf Hadareni progromartig gegen Roma. Zahlreiche Häuser wurden niedergebrannt, drei Roma getötet. Eine Dorfbewohnerin äusserte sich dazu wie folgt: «Wir sind stolz auf unsere Taten. Eigentlich wäre es sogar besser gewesen, wenn wir mehr Leute verbrannt hätten und nicht nur deren Häuser. Wir verübten keinen Mord – wie kann man das Töten von Zigeunern Mord nennen? Zigeuner sind nicht wirkliche Menschen, weisst du. Sie töten einander. Sie sind Kriminelle, untermenschlich, Ungeziefer».   

Das Vokabular des letzten Satzes enthüllt den ganzen monströsen Widerspruch: Roma sind Kriminelle, also Menschen, und gleichzeitig Ungeziefer, also nicht Menschen – eigentlich sind sie weder noch, nämlich untermenschlich. Die Frau lebt mit diesem Widerspruch in Seelenruhe. Sie demonstriert die «einleuchtende» Logik der Unmenschlichkeit, vom Dorfprogrom in Rumänien bis zum Genozid in Ruanda. Der Sadismus, andere Menschen als Ungeziefer zu behandeln, liegt exakt darin, dass sie kein Ungeziefer sind. 

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Entmenschlichung beginnt im Kopf. Im Denken und Reden über andere, nicht im Behandeln anderer, obwohl beides untrennbar zusammenhängt. Es gibt zahlreiche soziale Praktiken, die vom «gespaltenen» entmenschlichenden Geisteszustand gestützt werden. Einige, wie das Lynchen in der «Jim Crow»-Ära der USA, gründen in alten Traditionen, andere, wie die industrielle Vernichtung «unwerten» Lebens  in Nazi-Deutschland, sind «fortgeschrittenere» Formen der Entmenschlichung. 

So oder so, der Hang zur Unmenschlichkeit ist menschlich. Wir sollten also Humanität auch vom entgegengesetzten Pol des Spektrums - der Monstrosität - her denken. Adorno nannte diesen Pol «Auschwitz» und schrieb: «Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung». Aber zu dieser Erziehung gehört notwendig das Memento, dass Auschwitz immer möglich sei. Indem wir das Monster in den Horizont des Menschenmöglichen einbeziehen, können wir es konfrontieren – mit uns selbst. 











Mittwoch, 27. März 2024

 



Die Geburt des Terrors aus dem Geist des Spektakels

Terroristen überbieten sich mit Abscheulichkeiten, genauer: mit der Inszenierung von Abscheulichkeiten. Weil sie nicht Krieg führen und keine Schlachten gewinnen können, greifen sie zu einem anderen Mittel: zum Spektakel. Sie sind nicht Feldherren, sondern Regisseure. In ihren «Stücken» ertönt allerdings nicht Theaterdonner und fliesst nicht Theaterblut, sondern rattern reale Kalaschnikows und verlieren reale Menschen reales Blut. Gerade dadurch können Terroristen der nachwirkenden öffentlichen «Rezeption» sicher sein. Der Einsturz der Twin Towers war theatertauglicher – symbolischer - als der Angriff auf das Pentagon. Man traf quasi die architektonische Erektion des Kapitalismus.

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Die Verurteilung von terroristischen Exekutionen, Entführungen, Enthauptungen Unschuldiger fällt leicht. Vor allem unter Politikern, die notgedrungen das Spiel der Terroristen mitspielen müssen und entsprechend theatralisch auftreten. 2015 veranstalteten Terroristen  ein Blutbad im Pariser Klub «Bataclan». Viele Spitzenpolitiker Europas reisten nach Paris zur Demonstration gegen den Terror. Im gleichen Jahr massakrierten Mitglieder von Boko Haram in Baga, Nigeria, Hunderte von Menschen. Warum demonstrierten die Politiker nicht auch gegen diesen Terror? Weil ihnen das Spektakel in Paris den Platz an der politischen Sonne optimal sicherte. Genau das will auch der Terrorist. Mit welchem ideologischen Brimborium er sich rechtfertigt – Kalifat, globale Umma, Krieg gegen die Ungläubigen - , er spielt mit im Kampf um Aufmerksamkeit, um Prime Time, Einschaltquote, Schlagzeilenplatz. 

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Seit einiger Zeit schon läuft eine Debatte über die «intrinsische» Gewalttätigkeit des Islam im Besonderen, der Religion im Allgemeinen. Das ist richtig und notwendig. Aber neben den Fragen nach der religiösen und politischen Dimension der islamistischen Gewalt wäre vielleicht auch ein drittes Motiv näher zu bedenken, nämlich je-nes des medialen Resonanzraums, in dem die Schreckenstaten ihren wohl noch nie da gewesenen Widerhall finden. 

Viele - fast ausschliesslich – junge islamistische Gewalttäter, die oft ohne Aussicht auf eine «zivile» Zukunft leben, sehen im Terror den Köder für die mediale Aufmerksamkeit. Sie sind Spektakel-Terroristen. Die wichtigste Waffe neben der Kalaschnikow ist die Handykamera. Hier offenbart sich Nihilismus, der sich als Märtyrertum aufplustert. Und durch seine virale Verbreitung wird er weltbühnentauglich. Auf abartige Weise zum Thrill. Er unterstützt die überall verbreitete Wollust, zu schauen und beschaut zu werden. 

Man erinnert sich unweigerlich an die «Gesellschaft des Spektakels» des französischen Schriftstellers, Filmers und «Situationisten» Guy Debord. Nach ihm sollte die künstlerische Avantgarde die Konsumgesellschaft mit «Terror» überziehen, das heisst, nicht Kunstwerke, sondern neue spektakuläre Situationen des Lebens schaffen: Verwirrung stiftende Aktionen gegen die bourgeoise Kultur, wie sie sich in Paris 1968 ereigneten; keineswegs nur harmlose, sondern an der Grenze zum wirklichen Terrorismus  - wie etwa der Versuch, den Eiffelturm in die Luft zu sprengen. Allerdings wurde dem Säufer und Wüterich Debord bald etwas mulmig zumute.  In den 1970er Jahren warnte er vor dem «Spektakel des Terrors». Als hätte er geahnt, dass sich fünzig Jahre später die Islamisten zu seinen gelehrigsten Schülern entwickeln würden. Sie sind auch «Situationisten». Aber sie verstehen keinen Spass. Bei ihnen kippt das Spektakel in blutigen Ernst.

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Auf dem Spiel steht eine bisher für selbstverständlich gehaltene Errungenschaft moderner liberaler Gesellschaften: Gewaltlosigkeit. Je weniger politische Gewalt in einer Gesellschaft herrscht, desto grösser die traumatisierende Wirkung einer punktuellen Gewalttat. Jede solche Tat verhöhnt den Staat: Schau, du bist nicht im Stande, deine Bürger zu schützen! Traditionellerweise begründet sich der Terrorismus als Widerstand gegen Gewaltverhältnisse. Nicht so der Spektakel-Terrorist. Er kämpft ja nicht gegen Widerstände, sondern nutzt schamlos die Verletzlichkeit der offenen Gesellschaft als Festivalbühne seiner blutigen Punk-Show aus. 

And the show must go on. Die bisher letzte Fortsetzung in diesem Geist des Spektakels stammt nun ausgerechnet nicht aus einer liberalen Gesellschaft, sondern aus Russland, wo am 22. März vier Terroristen ein Blutbad in einer Moskauer Konzerthalle anrichteten. Der Inlandgeheimdienst hat demonstriert, wie er mit – nota bene mutmasslichen - Attentätern verfährt: Folter, Misshandlung, totale Erniedrigung - Entmenschlichung. Der Staatsbüttel setzt gezielt und bewusst Bilder der Monstrosität seiner «Befragungsmethoden» in Umlauf, weil er mit der Schaulustigkeit der Welt rechnen kann. Terrorist und Häscher wollen, dass der Geist des Spektakels in unseren Schädeln Platz greift. Und je mehr ihnen dies gelingt, desto mehr verwandeln sie die Welt in ein Gruselkabinett des Schreckens.  






















Donnerstag, 7. März 2024

 



Nature Writing – ein missverstandenes Genre


Vor genau fünfzig Jahren sorgte der amerikanische Philosoph Thomas Nagel für Perplexität in der philosophischen Welt mit seiner Frage «Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?». Eine solche Frage war ungewohnt, weil das Problem des «Fremdpsychischen», wie man es in einschlägigen Kreisen nannte, sich doch eher auf Menschen beschränkte, und die Befindlichkeit von Tieren - ihre artspezifische Perspektive – kein Thema von hohem Diskussionswert war. 

Das hat sich geändert. Die Frage ist nicht bloss philosophisch von Belang, sie führt uns eigentlich mitten ins Herz der ökologischen Krise, der Entfremdung des Menschen von der Natur. Heute lautet die Frage  nicht nur, wie es ist, dieses oder jenes Tier zu sein, sondern, wie man dieses oder jenes Tier sein kann. «Being a Beast» lautet zum Beispiel der Titel eines Buchs des britischen Tierarztes, Rechtsanwalts und Schriftstellers Charles Foster aus dem Jahr 2016 (deutsch «Der Geschmack von Laub und Erde»). Er liess sich auf ein skurriles Experiment ein. Er wollte nicht bloss ein Verhaltensforscher sein, sondern sich selbst wie ein Tier verhalten. Nicht einfach den Dachs beschreiben, sondern am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man in einer Erdhöhle haust, durch Gras und Farn kriecht, den Waldboden erschnüffelt, Würmer zerbeisst. Oder wie der Otter im kalten Bach auf Fische lauert. Oder wie der Fuchs in Stadtparks und stinkenden Hinterhöfen lebt, sich von Abfällen ernährt. 

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Bücher wie jenes von Foster begründen schon seit längerem ein eigenes Genre: Nature Writing. Kurz gesagt, handelt es sich um das Bemühen, im Zeitalter des Anthropozäns das Verhältnis Mensch-Tier sozusagen literarisch umzukehren, es aus tierlicher Perspektive zu sehen. Man sucht sich vom anthropozentrischen Blick auf das Tier zu lösen, der in der «westlichen» Kultur bislang vorherrscht. Und da dieser Blick primär von der zivilisierten Lebensweise moderner Ge-sellschaften geprägt ist, erweist sich die Frage nach dem Tiersein immer auch als implizite Kritik an einer Haltung, die das Wilde, Ungezähmte, Unkontrollierte – eben: Animalische - nicht tolerieren kann.  

Das Genre erfreut sich grosser Beliebtheit, was sich durchaus als Anzeichen einer ökologischen Sensibilität in gewissen Leserkreisen deuten lässt. Seit 2017 gibt es einen Preis für Nature Writing in der deutschsprachigen Literatur. Die Verabschiedung von einer gängigen anthropozentrischen Naturbeschreibung kann im Besonderen zu ziemlich extravaganten Beispielen führen, wie etwa der Erfahrung, von einem Krokodil fast gefressen zu werden. Die australische Ökophilosophin Val Plumwood hat dieses existenzielle Ereignis in ihrem Buch «The Eye of the Crocodile» (2013) geschildert. Sozusagen aus der Perspektive «Wie ist es, ein Stück fressbares Fleisch zu sein?» 

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Die Frage hat zweifellos das Zeug, das Selbstverständnis des Menschen zu erschüttern, indem sie ihn gewissermassen in die natürliche Nahrungskette eingliedert. Ob man auf diese Weise ein «authentischeres» Verständnis des Tierlebens gewinnt, bleibt dabei allerdings fraglich. Und so gesehen ist das Bemerkenswerteste an Charles Fosters Stunts in der Tierwelt seine ehrliche Selbstkritik. Hat das Ganze nicht eher den Charakter des Varieté-Zaubers? Foster vergleicht sich mit einem Naturschausteller. « ‘Hereinspaziert, hereinspaziert!’ rufe ich, ‘Kommen Sie und sehen Sie den Tiger. Nur 15 Dollar pro Blick.’ Aber wenn ich die 15 Dollar eingesackt und das Publikum zwischen zwei Buchdeckel gelockt habe, ist kein Tiger zu sehen – nur ein linkisches Porträt meiner selbst». Auch wenn wir also wüssten, wie es ist, eine Fledermaus, ein Dachs, ein Krokodil zu sein – und ich glaube nicht, dass wir das können -, wäre unser Wissen menschlich «kontaminiert». Wie präzise und einfühlsam – «schamanistisch» - man ein Tier beschreibt, die Beschreibung macht einen nicht zum Tier.

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Wozu auch? Eigentlich geht es im Nature Writing nicht um die Natur, sondern um die Lesbarkeit der Natur. Sie steht seit dem 17. Jahrhundert im Zeichen einer dominierenden Metapher: des Buches der Natur, das in mathematischen Lettern geschrieben ist. Darin äussert sich, etwas allgemeiner formuliert,  der Anspruch, die Natur am besten in der objektivierenden wissenschaftlichen Sprache zu verstehen. Und als Repräsentantin dieses Anspruchs gilt die Frage aus der ethologischen Distanz «Wie verhält sich ein Tier in seiner Umwelt?». Sie klammert genau die andere Frage «Wie ist es, ein Tier zu sein?» aus. Paradox daran ist, dass man die Frage letztlich nicht beantworten kann, und sie trotzdem immer wieder stellt, als ob sich darin eine tiefsitzende Sehnsucht nach dem nichtmenschlich Anderen äusserte. Man versucht, in der Imagination auf die «andere Seite» der Natur hinüberzusetzen. Wie das traditionellerweise die Fabel tut. 

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Letztlich ist Nature Writing nicht alternative Naturkunde, sondern antwortet auf einen Befund, den man Naturanalphabetismus nennen könnte. Davon berichtet der britische Schriftsteller Robert Macfarlane in seinem Buch «Landmarks» (2015). Er weist auf ein Symptom des Naturanalphabetismus hin. Der Oxford Junior Dictionary, ein Nachschlagewerk für Kinder, hat eine Vielzahl von Wörtern für die Natur getilgt. Sie seien für ein Leben in den heutigen Umwelten nicht mehr relevant: zum Beispiel Eichel, Kreuzotter, Esche, Buche, Weidenkätzchen, Löwenzahn, Heide, Efeu, Mistel Wiese. An ihrer statt nimmt der Diktionär jetzt Begriffe auf wie Attachment, Block-Graph, Blog, Breitband, Chatroom, MP3-Player, Voice-Mail. 

Nichts drückt den fundamentalen Wandel gegenüber unserer Umwelt drastischer aus als dieser Vokabularwandel. Eine unscheinbare, aber symptomatische Verschiebung. Wie Macfarlane schreibt, manifestiert sich darin nicht nur ein Wahrnehmungsschwund, sondern auch der Verlust einer «Art von Wortmagie: einer Kraft, die bestimmte Begriffe besitzen, um unser Verhältnis zur Natur und ihren Orten zu verzaubern.» Wir vermüllen die Natur nicht zuletzt dadurch, dass wir das Vokabular der Imagination zum Abfall werfen. Wir bemerken nicht, dass Sprachverödung nur eine Seite der Naturverödung ist. 

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Und genau hier, im Arbeiten gegen diesen Trend, gewinnt Nature Writing meines Erachtens seine genuine Bedeutung. Das Genre weitet seinen Horizont über das Organische hinaus. So beschreibt zum Beispiel die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky in ihrem Buch «Schiefern» (2020) poetisch ehemalige Schieferabbaugebiete auf den Hebriden. Verlassenes, steiniges, postindustrielles Gelände, dem sie zu «schiefriger Mundart» verhilft, indem sie dafür eine Sprache schafft. Sie hat auch gleich einen Gattungsbegriff kreiert: «Geländeroman». Und zwar in ausdrücklicher Absetzung von einem «lyrischen» Landschaftsbild, das in der Regel die Verbundenheit von Mensch und Natur evoziert.  Bei Kinsky existiert sie nicht. Vielmehr zeigt ihr literarisches Lapidarium gerade das Gegenteil: nicht die Reanimierung einer vermeintlich ursprünglichen Familiarität alles Lebenden, sondern die Relikte eines unaufhaltsamen Kahlschlags unserer Umwelten. Gerade diese Art von Nature Writing macht Verlusterfahrung lesbar. 

Es verschwinden nicht nur biologische Arten, es verschwinden auch linguistische Arten. Biodiversität heisst immer auch Sprachdiversität. Naturpflege ist Sprachpflege. Sprache ist fähig, zum Sehen zu verhelfen. Wie die Schriftstellerin Marion Poschmann – ebenfalls im Genre tätig - bemerkt, kann gerade die Literatur «den (nichtpekuniären) Wert der verschwindenden Lebens-räume, der verschwindenden Arten vor Augen führen». Zu dieser Wertschöpfung trägt die Wortschöpfung bei. Ökologie ist immer auch Ökopoesie. 







Samstag, 27. Januar 2024


NZZ, 24.1.24

Wildnis dank Technik

Unberührtheit der Natur ist ein antiquierter Wert

Der Mensch gefährdet Natur zunehmend, das ist altbekannt. Leicht prangert man dabei die Technik als Handlangerin an. Und das ist zu kurzsichtig. Die Frage stellt sich vielmehr, ob Technik auch zur Rettung der Natur beitragen kann. Etwa dadurch, dass man ihr durch automatische Systeme auf die Sprünge hilft. Gentechniker designen Bakterien, die Plastik abbauen. Oder Robotiker konstruieren künstliche Bienen – «Robobees» - , die mangels natürlicher das Bestäuben über-nehmen. 

Wie scheel man solche Bemühungen auch betrachtet, sie deuten den Horizont eines weit grösseren Unterfangens an. Umweltforscherinnen und -forscher der Universitäten Harvard und Maryland nennen es die «automatische Kuratierung von wilden Orten».  Sie schreiben: «Die Erhaltung von wilden Orten verlangt zunehmend intensive menschliche Interventionen (..) Könnte ein Deep-Learning-System die Autonomie nichtmenschlicher ökologischer Prozesse erhalten ohne direkte menschliche Einwirkung?» 

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Man spricht von computergestützter Nachhaltigkeit. Sie widerspricht unserem traditionellen öko-logischen Denken, das tief geprägt ist vom Gegensatz Technik-Natur. In der Antike unterschied man streng zwischen Menschengemachtem und Gewachsenem. Aber eigentlich sind Ökosysteme immer schon Komplexe aus Menschen, anderen Lebewesen und Technik. Man denke an Getreidefelder oder Forste. «Wilde» Natur ist eine Komponente dieses Komplexes. Wir erhalten sie, indem wir sie gestalten, also unsere besten Instrumente benutzen.

Und dazu gehören lernende Algorithmen. Sie werden heute schon vielfältig im «Nature Watching» eingesetzt. Zum Beispiel installiert die Organisation Rainforest Connection Sensoren als «Wächter des Waldes» in Nationalparks auf den Philippinen, in Indonesien und Costa Rica. Global Fishing Watch nutzt Satellitendaten in der Verfolgung und Verhinderung von illegaler Fischerei. Ohnehin betreibt man heute Tierbeobachtung in Echtzeit vermehrt aus externer Satellitenperspektive. Um den ganzen Globus spannt sich eine immer dichtere interaktive Technosphäre – die «Smart E-arth». Das Ausmass einer solchen technikgestützen Wildnis lässt sich nur erahnen. Die kanadische Umweltforscherin und Unternehmerin Karen Bakker spricht von einem «Internet der Erdlinge».   

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Hier bricht jedoch der latente Widerspruch auf. So wie der Erdling Mensch in der Ausbeutung der Natur die Hauptrolle spielt, so auch in ihrer Schonung. Wir müssen aufpassen, dass wir Schonung nicht wiederum anthropozentrisch verstehen, das heisst, unter der schützenden Hand des «Internets der Erdlinge» Natur nach wie vor primär als Ressource, als «Dienstleisterin» des  konsumierenden Lebensstandards betrachten.  Manifestiert sich nicht verdächtig genug die Tendenz, Umweltschutz als Schutz dieses Standards zu begreifen? Sind Smart-Earth-Technologien nicht die neuesten Ausgeburten eines digitalen Kapitalismus, der sich grüngewaschene Selbstabsolution erteilt? Wer beteiligt sich mehrheitlich an den Umweltdateninitiativen? Google, Micro-soft, IBM, Hewlett Packard, CISCO. Sie spielen schon in der allgegenwärtigen Überwachungstechnologie des Menschen eine (un)heimliche Vorreiterrolle. 

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Trotzdem: Eine «nachwilde» Natur schliesst die menschliche Intervention, also eine umsichtige, «sorgende» Öko-Technik auf einem sich erwärmenden Planeten ein. Die Betonung liegt auf «Um-sicht», einer Umwertung der Werte, in dreierlei Hinsicht. Erstens die Hinterfragung des «Muskismus», einer grössenwahnsinnigen Ideologie der Technik als Garantin haltlosen Wachstums «wie immer»;  zweitens eine Konzeption der Technik, die in ihr nicht – und dies seit der Antike – bloss  Zwang und Gewaltanwendung gegen die Natur sieht; drittens die Aufwertung eines alten Wildnisbegriffs: der natura naturans, einer «nicht gebauten», einer schaffenden, nur partiell kontrollierbaren Natur. 

Bruno Latour, der französische Philosoph und Gaia-Hohepriester, sprach von einem «Parlament der Dinge», in dem neben menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen auch Artefakte ihre Stimme einbringen können. Statt einer solch überkandidelten Vision meint Umsicht nüchtern den Appell: Lerne endlich die «Wildheit» der Natur, der anderen Erdlinge kennen! Sie können ohne uns leben, und sie haben ihre eigene kognitive Ausstattung, um zu überleben. Vielleicht eine bessere als der Mensch, dieses «exzentrische» Tier. Wir wissen viel zu wenig, was für unbekannte Unbekannte in dieser «Wildheit» stecken. 

Ohnehin wird sich im Anthropozän die menschliche Intervention noch deutlicher als das erweisen, was sie schon immer war: ein Hasardspiel. Die Evolution ist Meisterin dieses Spiels – und sie lacht immer zuletzt. 









Montag, 25. Dezember 2023



Warum zum Geier ist das Bewusstsein 

ein «hartes» Problem?

Was ist Bewusstsein? Vor 25 Jahren stritten sich der Neurowissenschaftler Christof Koch und der Philosoph David Chalmers über diese Frage. Koch vertrat die These, dass das Phänomen des Bewussteins auf der Basis neurophysiologischer Vorgänge erklärbar sei. Dagegen erhob der damals kaum bekannte Chalmers den kecken Einwand, dass der neurophysiologische Kenntnisstand allein, und mag er noch so hoch sein, nicht erklären könne, wie Bewusstsein aus Gehirnprozesses «auftaucht». Und er prägte einen mittlerweile notorischen Begriff für diese Unzuläng-ichkeit: das «harte Problem» des Bewussteins. Koch ging mit Chalmers eine Wette ein: Im Jahre 2023 würde man ein neuronales Muster entdeckt haben, von dem aus man auf bewusstes Verhalten schliessen könne. Wettgewinn: Eine Kiste Wein. Chalmers erhielt sie im Juni 2023. 

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Zwischen Gehirn und Gedanken geschieht etwas Rätselhaftes. Man spricht von «Emergenz». Ein System besteht aus Elementen. Diese haben eine Reihe von Eigenschaften. Im Systemganzen «emergiert» eine neue Eigenschaft, die auf dem Niveau der Elemente nicht zu finden ist. Ein Wassermolekül ist nicht nass, Wasser ist nass. Neuronen sind nicht bewusst, ein aktives Netz von Neuronen ist bewusst. Wie erfolgt der Übergang von der Nicht-Nässe zur Nässe, vom Nicht-Bewussten zum Bewussten?

In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten hat sich der Emergenzbegriff als Hoffnungsträger in der Erklärung vieler komplexer Phänomene eingebracht, von der Physik und Chemie, über Biologie und Neurowissenschaft bis zur Soziologie und KI-Forschung. Als Problem erweist sich allerdings gerade das explikative Vermögen des Begriffs. «Bewusstsein emergiert aus neuronalen Prozessen»  beschreibt eine Beobachtung, liefert keine Erklärung. Wenn man mein Gehirn an einer bestimmten Stelle reizt, dann empfinde ich bewusst Schmerzen. Emergieren sie aus dem komplexen Orchester - dem Konnektom - von Neuronen? Von welchem Komplexitätsgrad an? Welches spezielle Wechselspiel findet zwischen den Neuronen statt? Welche Umweltbedingungen müssen dabei herrschen? Solche Fragen münden in einen einzigen Verdacht: Emergenz ist das Problem, das sich als Erklärung ausgibt. 

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Heute machen sich neurokybernetische Modelle anheischig, das harte Problem zu «lösen». In der Diskussion steht gegenwärtig die «integrierte Informationstheorie (IIT)» von Christoph Koch und dem Neuropsychologen Guido Tononi. Die Grundidee ist nicht neu, sie stammt aus der Gestaltpsychologie vor über hundert Jahren. Als bewusste Wesen sind wir fähig, eine Vielzahl von Eindrücken zu unterscheiden und doch nehmen wir in ihnen etwas als gestalthaftes Ganzes wahr. Ein Smartphone kann eine gewaltige Pixelmenge speichern und in der darin enthaltenen Information Unterscheidungen vornehmen. Das aber macht kein «bewusst» wahrnehmendes Smartphone aus. Die Pixel müssten vielmehr miteinander verknüpft, zu Mustern «integriert» sein. Bewusstseinszustände hängen, so die These, von der Dichte an differenzierter und integrierter Information einer beliebigen Netzstruktur ab. Tononis Theorie definiert eine mathematische Masszahl für diese Dichte, in Bits. Er bezeichnet sie als «Phi» (Φ). 

Es gibt also, genau gesagt, in der Sicht der IIT graduelle Bewusstheit. Phi misst, wie viel integrierte – und damit bewusste – Information ein Netzwerk enthält, sei es nun organisch, anorganisch oder künstlich. Im Besonderen spielt Tononi mit der Idee eines «Phi-Meters». Angenommen, er misst bei meinem Smartphone einen spezifischen Phi-Wert. Hat das Smartphone nun ein Bewusstsein? Ach woher, es hat bloss einen Integriertheitsgrad Phi. Der Zusammenhang zwischen Phi-Wert und Bewusstsein wird einfach willkürlich stipuliert, nicht erklärt. Begriffszauber. In einem offenen Brief bezeichneten kürzlich hundert Bewusstseinsforscher die IIT als «Pseudowissenschaft».  

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Das Gehirn ist ein Stück Materie, und Materie unterliegt den Gesetzen der Quantenphysik. Vom Anästhesiologen Stuart Hameroff und dem Physiker Roger Penrose stammt eine Quantentheorie des Bewusstseins. Hameroff vermutet, dass Bewusstsein aus so genannten Mikrotubuli emergiert: Proteinfäden, die innerhalb der Nervenzellen als molekulare Informationsübermittler fun-gieren. Sie sind genügend klein, um einen typischen Quanteneffekt zu zeigen. Die Einzelzustände vieler Mikrotubuli überlagern sich zu einem kohärenten Gesamtzustand, einer sogenannten Superposition. Sie speichert Quanteninformation: Qbits. Sie ist aber instabil. Wenn uns etwas bewusst wird, bedeutet dies, dass auf der Quantenebene des Gehirns eine Superposition von Mikrotubuli zerfällt. Man spricht heute von Dekohärenz der Quanteninformation. 

Eine theoretische Luftnummer, sagen nicht wenige. Erstens ist unklar, ob Mikrotubuli eine zentrale Rolle in Bewusstseinsvorgängen spielen. Zweitens beruft sich Penrose auf eine «modifizierte» neue Quantentheorie der Gravitation, welche die Dekohärenz erklären würde: die «orchestrierte objektive Reduktion». Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Physiker alles andere als «orchestriert» sind über eine Quantentheorie der Gravitation. Das Ganze erinnert an Alchemie: die Erklärung von etwas Unbekanntem durch etwas Unbekannteres.

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Gewiss, das Bewusstsein ist auch ein Naturphänomen, es hat «etwas zu tun» mit Gehirnvorgängen. Und die Neurobiologie gewährt uns immer mehr Einblicke. Freilich auch immer mehr Puzzleteile, die das harte Problem noch härter erscheinen lassen.    Ein Teilnehmer der Konferenz über Bewusstseinsforschung 2019 in Interlaken brachte es auf den Punkt: «Theorien über das Bewusstsein sind wie Zahnbürsten. Jeder hat eine, und keiner will diejenige des anderen verwenden». 

Wie emergiert Bewusstsein aus dem Gehirn? Vielleicht ist die Frage falsch gestellt, zu neurozentrisch. Vielleicht sollten wir einfach die Perspektive wechseln: vom Gehirn zum Gehirnbenutzer und seinen bewussten Erfahrungen in seiner spezifischen Umwelt. Die meisten haben überhaupt kein Problem mit dem Bewusstsein, weil sie es «von innen» erfahren – als empfindungsfähige Personen – und nicht «von aussen»: in der Perspektive des Gehirns, der Physik, der Emergenz oder wessen auch immer. 

Nicht das Gehirn ist das Primäre, sondern dessen Benutzer. Wenn wir den Neurozentrismus durch diese andere Perspektive ergänzen, könnte sich das harte Problem als die alte Fabel vom Wettrennen zwischen Hase und Igel erweisen. Der Igel Bewusstsein lacht sich ins Fäustchen: Rennt ihr neurowissenschaftlichen Hasen nur Runde um Runde mit euren Theorien, ich bin schon am Ziel. Auch in weiteren 25 Jahren. 





Donnerstag, 30. November 2023



NZZ, 27.11.23

 Was vom Menschlichen bleibt

Über «molekularen» Universalismus 

Das Blutbad des 7. Oktobers ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Aber welche Menschheit eigentlich? Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek weiss nicht mehr, was Humanität sein soll.  Wir sprechen von Menschenwürde. Damit meinen wir etwas, das über einer anthropologischen Charakterisierung wie Rasse, Sexualität, Ethnie steht. Aber was? Das Selbstverständnis der europäischen Aufklärung steht auf dem Prüfstand, zumal die Idee einer universellen Moral. Postkoloniale Theorien verhöhnen sie schon seit längerem als leeres Gerede. Treten wir von der postfaktischen Ära nun in die postmoralische? 

Eine alte philosophische Kontroverse gerät jetzt ins Schlaglicht, jene zwischen Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder. Kant deklarierte: Der Mensch ist nur wirklich Mensch, wenn er sich universellen kulturübergreifenden Imperativen verpflichtet. Herder, der Vorläufer der «Cul-tural Studies», konterte: «Ohne Kultur war und ist der Mensch nicht etwa nur ein rohes Holz, ein ungeformter Marmor, sondern er ist und wird ein brutum.»   

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Die heutige politische Realität widerspricht Herder. Gerade durch Kultur kann der Mensch zum «brutum» mutieren.  Der Genozid zum Beispiel ist eine kulturelle «Errungenschaft». In einem Punkt hat Herder sicher recht. Der Mensch ist ein Lebewesen, das einer bestimmten Gruppe mit eigener Abstammung und Geschichte, eigenen Erinnerungen, Mythen, Sitten angehört. Die Bewahrung und gegebenenfalls Verteidigung dieses gemeinsamen Erbes verleiht das Siegel eigentlicher Identität. Auch die Moral ist ethnisch und kulturell geprägt. 

Problematisch wird die Idee dann, wenn sie die Verbindlichkeit allgemeiner Werte oder Normen leugnet. Dies mit dem Generalargument, dass allgemeine Werte ohnehin immer weisse, europäische, koloniale «Hegemonialansprüche» kaschierten. Schon als die UNO 1947 den Entwurf zu einer universellen Menschenrechtserklärung in die Vernehmlassung schickte, hielt ihr der amerikanische Dachverband der Ethnologen entgegen, dass alle Menschenrechtserklärungen «provinziell» seien.  Eine universelle Erklärung würde bloss eine «provinzielle» Version den andern aufdrängen, sei also im Grund ein Akt  klandestinen Imperialismus’. 

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Tatsächlich hat der Universalismus eine Schwachstelle. Er ist primär eine Idee, nicht eine Erfahrung. Er spricht von einem «abstrakten» Wesen namens Mensch, einem aus jeglicher kultureller Verwurzelung herausgelösten Wesen. Und dieses Wesen solle – gemäss Kant - immer zuerst als Zweck betrachtet werden, nie bloss als Mittel. Schöne Worte, gewiss. Aber wie schon der scharfsinnige Gegenaufkärer Joseph de Maistre zu Beginn des 19. Jahrhunderts schrieb: «Ich habe in meinem Leben Franzosen, Italiener, Russen gesehen. Ich weiss dank Montesquieu sogar, dass man Perser sein kann. Was jedoch den Menschen anbelangt, so erkläre ich, dass ich ihm nie im Leben begegnet bin». 

Die «konservative Revolution» im 20. Jahrhundert nahm diesen Gedanken auf. Einer ihrer kampflüsternen Propagandisten, der Philosoph und Journalist Armin Mohler, giftelte unentwegt gegen den scheinheiligen, «Abstraktionen verfallenen Liberalen». Die Distanz mache alle Menschen gleich. Aus der Nähe betrachtet gebe es jedoch nur den «konkreten» Menschen, und das heisst: den in seiner partikularen Gemeinschaft verwurzelten und ihr auch schicksalsmässig verhafteten Menschen. Gleichheit herrscht nur unter Gleichartigen. Das ist der «Universalismus» der Rassisten, Nativisten, Blutsbrüderhorden.

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Aber ist der Universalismus wirklich nur eine Idee? Gibt es keine Grunderfahrungen? Spontan fällt mir ein rezenter Zeitungsbericht ein. Ein Israeli und ein Palästinenser führen in Berlin gemeinsam ein Restaurant unter dem Motto «Make Hummus, not War». Der Geschmack der Speise habe den Sinn für das Gemeinsame geweckt. Eine stille Marginalie, sicher, verglichen mit dem wüsten antisemitischen Radau in Berlin. Aber gerade auf sie kommt es an. Solch «molekularer» Universalismus geschieht ständig, gerade in multikulturellen urbanen Nachbarschaften. Er ist das pure Gegenteil von «Identity first» - Israeli hier, Palästinenser dort. Menschen haben das Recht, eigene Identitäten zu entwickeln, dieses Recht stützt sich aber auf das universelle Vermögen, bei Gelegenheit von trennenden Identitätsmerkmalen zu «abstrahieren». 

Eine andere Grunderfahrung hatte schon Kant in seiner Schrift «Zum ewigen Frieden» angesprochen: «Da es nun mit der unter Völkern der Erde (...) überhandgenommenen (...) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung (..) zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt.»

Kant untertreibt hier. Die Verletzung der Menschenrechte ist nicht eine «notwendige Ergänzung», sie ist eine notwendige universelle Basis für eine moralische Gemeinschaft. Im 20. Jahrhundert sollte Martin Luther King dem Gedanken eine andere Fassung geben: «Wenn irgendwo Unrecht geschieht, ist überall die Gerechtigkeit in Gefahr». Man mag an der Begründbarkeit der Menschenrechte zweifeln, sie leugnen und als utopisch belächeln, aber die Verletzung ist und bleibt eine «punktuelle» Evidenz, von der man sich «als Mensch» nicht abwenden kann. An den grausamen Ekstasen der Gewalt ändert der Blick auf den Kontext nichts. 

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Verbrechen gegen die abstrakte Menschheit widerfahren immer einem konkreten Körper. Die Kugel verletzt meine Blutgefässe, der Schnitt in die Haut schmerzt mich, Stromstösse schädigen meine Nerven, Schlafentzug schwächt meine Abwehrkräfte, das gewaltsame Eindringen in die Intimsphäre traumatisiert meine Psyche. Wir sind nicht nur vernünftige Wesen, wir sind verwundbare Wesen, und gerade das Gedächtnis unserer Wunden befähigt uns (zwingt uns oft), universelle Werturteile zu fällen: dies ist besser als das. Nahrung ist besser als Hunger. Mitgefühl ist besser als Aversion. Ein Wort ist besser als eine Faust ins Gesicht. Das sagen mir vielleicht auch die Stimmen meines Glaubens, meiner Vernunft, meiner Identität. Aber sie sind dem Grundton aufmoduliert, den die Stimme des Körpers liefert. Er widersetzt sich einer totalen kulturellen Vereinnahmung. Er ist unser aller moralisches Medium. 

Ein Grossteil ethisch relevanter Verhaltensformen – der Kitt unseres Zusammenlebens – ist nicht explizit in Prinzipien oder Werten fundiert, sondern inkarniert im sozialen Umgang miteinander. Unser moralischer Kompass erweist sich oft als sprachlos. Wir haben gewissermassen einen viszeralen Sinn dafür, was «richtig» oder «falsch» ist. Wir retten spontan und «grundlos» ein Kind, das ins Wasser gefallen ist. Und wir sind spontan und «grundlos» indigniert, wenn an Wehrlosen Gewalt verübt wird. Das sind sozusagen moralische Automatismen. Sogar Kant, der alles begründet sehen wollte, gestand ein: Eigentlich bedürfe es «keiner Wissenschaft und Philosophie, um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut zu sein»; man könne es nicht «ohne Bewunderung ansehen, wie das praktische Beurteilungsvermögen (im gemeinen Menschenverstand) dem theoretischen (..) so gar viel voraus habe». 

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Man mag die Verpflichtung gegenüber der Menschheit in einem hochgestochenen «radikalen Universalismus» einfordern. Geerdet ist sie in trivialen Grunderfahrungen. Shylock, der jüdische Geldverleiher in Shakespeares «Kaufmann in Venedig», hat einem anderen Universalismus mit bewegender Klarheit das Wort geredet: «Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmassen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?» 

Doch, Shylock. Wir alle bluten. Juden und Nichtjuden. Buchstäblich und im übertragenen Sinn.


NZZ, 9.4.24 Sokrates und der ChatGPT Schreiben in der postliterarischen Welt Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, er...